In
der von Theodor Hertel besorgten Ausgabe von Storms Werken findet man
unter „Sprüche“1
zwei kurze Gedichte, die nach der Datierung durch den Herausgeber im
Juli 1858 verfasst worden sind. Deren erstes lautet:
Der
eine fragt: Was kommt danach?
Der
andere fragt nur: Ist es recht?
Und
also unterscheidet sich
der
Freie von dem Knecht.
Das
Verständnis des Sinnspruchs ist umstritten; deshalb wollen wir ihn
methodisch exakt lesen, um seinen Sinn jenseits bloßer Vermutungen
zu ermitteln. Zugleich sind diese Überlegungen eine Anleitung, einen
Text bewusst zu lesen, statt sich auf bloße Assoziationen zu
einzelnen Wörtern zu verlassen.
Es
ist von zwei Fragen bzw. Fragenden die Rede. Unbestimmt ist zunächst,
wann sie wen fragen. Aufgrund ihrer Fragen füllen wir diese erste
Leerstelle so: Sie fragen
sich selbst, ehe sie etwas tun, was jenseits alltäglicher Routine
liegt, weshalb man nachdenkt, wie man handeln soll.
Die
Frage „Was kommt danach?“ zielt auf die Folgen der Handlung; sie
weist eine weitere Leerstelle auf: Was kommt danach [für mich, oder:
überhaupt]? Wie man diese Leerstelle füllt, entscheidet über das
Verständnis des Spruchs; wählt man „für mich“, hat man die
Frage eines Opportunisten vor sich, der nur auf seinen Vorteil
bedacht ist; wählt man „überhaupt“, hört man die Frage eines
Menschen, den man im Sinn Max Webers als Verantwortungsethiker
bezeichnen könnte, weil er die Folgen seines Handelns für andere
bedenkt. Welches die richtige Wahl ist, kann man bis jetzt noch nicht
entscheiden.
Die
zweite Frage „Ist es recht?“ wird oft missverstanden, weil Leser
nicht zwischen dem Substantiv „Recht“ und dem Adjektiv „recht“
unterscheiden. Das Adjektiv „recht“ bedeutet „gerade; richtig;
angemessen“2.
Etwas differenzierter steht in Hermann Pauls Wörterbuch: 1)
Grundbedeutung „gerade“; 2) richtig (Gegensatz: unrecht und
falsch); 3) speziell ist recht, was den Gesetzen oder Geboten der
Sittlichkeit entspricht (Gegensatz „unrecht“, nicht „falsch“);
es folgen vier weitere Bedeutungen.3
Wir haben auf Wörterbücher
zurückgegriffen, die den Sprachgebrauch Theodor Storms erfassen, da
sie wenige Jahrzehnte nach 1858 erschienen sind; gerade die dritte
bei Paul genannte Bedeutung von „recht“ kommt hier in Frage –
Maßstab des Handelns sind dem Fragenden die Gebote der Sittlichkeit
(und nicht die Gesetze des Staates, also das Recht).
Um
die Leerstelle in der ersten Frage zu füllen, müssen wir den
Kontext dieser Frage
beachten, d.h. die Sätze als Text
lesen; sie stellt nämlich das Gegenteil der
zweiten Frage dar, was sich einmal aus der einschränkenden Partikel
„nur“ ergibt, vor allem aber aus dem Gegensatz „der Freie / der
Knecht“, denen die beiden Fragen zugeordnet werden – welche die
des Freien ist, werden wir später untersuchen. Wenn wir also die
beiden Fragen als Gegensätze auffassen müssen, können wir sie so
umschreiben: „Egal, was recht ist – was kommt danach“ und „Was
ist recht – egal, was danach kommt?“ Weil im Gedicht nur von zwei
einzelnen Menschen die Rede ist, wird man die erste Frage so
verstehen dürfen: „Was kommt für mich danach, was kommt für mich
dabei heraus – egal, was recht ist?“
Auch
der erweiterte Kontext des Gedichtes spricht für dieses Verständnis.
Ich berufe mich auf ein anderes Gedicht Storms, das er im Oktober
1854 verfasst hat, „Für meine Söhne“. Dort heißt es in der
ersten Strophe:
Hehle
nimmer mit der Wahrheit!
Bringt
sie Leid, nicht bringt sie Reue;
das
ist, auf einen besonderen Fall angewandt, die Mahnung, recht zu
handeln, ohne auf die Folgen zu achten. Dass der eigene Vorteil nicht
der richtige Maßstab des Handelns ist, sagt Storm auch in den beiden
letzten Strophen des gleichen Gedichts:
… hüte
deine Seele
vor
dem Karrieremachen und
Halte
fest: du hast vom Leben
Doch
am Ende nur dich selber.
Das
alles sind Lebensregeln im Sinn des Sprichwortes „Tue recht und
scheue niemand.“ Dieses Sprichwort gehört zum noch einmal
erweiterten Kontext des Gedichts, das zu einem breiten Strom
europäischer Ethik und Lebensweisheit gehört, aus dem Sokrates4,
Jesus und andere herausragen.
So
bleibt als letzte Frage die, wer von den beiden der Freie und wer der
Knecht ist. „Knecht:“ bedeutet5
ursprünglich Knabe, Knappe; später steht es im Gegensatz zu „Herr“,
wird dann durch „Diener“ verdrängt, ist aber in der
Landwirtschaft noch üblich. Anderseits bedeutet „Knecht“ seit
alters auch „Unfreier“, leibeigener Knecht, bildlich etwa „der
Sünde Knecht“ und dergleichen. Das Wörterbuch und der Gegensatz
zu „Freier“ legen nahe, hier ebenfalls die negative metaphorische
Bedeutung anzunehmen.
Wir
haben also einen doppelten Gegensatz vor uns, dessen Paare durch
„also“ (= „so“) einander als gleichartig zugeordnet werden:
der
eine: danach? - der andere: recht?
der
Freie
- der Knecht
Rhetorisch
könnte man die Zuordnung als Parallelismus lesen, dann wäre der
eine der Freie und der andere der Knecht; man kann das Verhältnis
der Paare aber auch als Chiasmus6
ansehen, dann ist der eine der Knecht und der andere der Freie.
Die
Rhetorik lässt also beide Lesarten zu, so dass man vom Sinn
her entscheiden muss, wer der Freie ist: Ist es derjenige, der nach
den Maßstäben des Sittengesetzes handelt, oder ist es derjenige,
der die Folgen seines Handelns kalkuliert? Kein Zweifel, der andere
ist der Freie; der eine ist ein Knecht seines Gewinnstrebens, dem
ethische Maßstäbe gleichgültig sind. Wessen Knecht wäre auch
derjenige, der sich am Sittengesetz orientiert und dabei Nachteile,
vielleicht sogar den Verlust des Lebens wie Sokrates riskiert?
Zweifellos
stellt das Gedicht eine Mahnung dar, wie ein Freier statt als Knecht
zu leben. Diese Mahnung steht in der großen Tradition
europäischer Lebensweisheit: Sie besagt, dass man als Mensch erst
frei wird, wenn man sich von der animalischen Sorge um den eigenen
Vorteil (Was ist gut für mich?) befreit, den Blick weitet und sich
fragt: Was ist richtig? Was ist gut für alle Menschen?
Diese
Lesart kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, wenn man die
methodischen Schritte bedenkt, mit denen wir sie gefunden haben.
Solches methodisch kontrollierte Lesen muss geübt werden – wir
haben dazu diese Übung angestellt, in der ich reale
Verständnisschwierigkeiten aufgegriffen habe (vgl. die Ergebnisse
der Suche im Netz unter „Storm: Der eine fragt“!).
Methodisches
Fazit:
Wir
haben auf den Ebenen der Wörter, der Sätze und des Textes operiert.
Um die Bedeutung der Wörter
zu ermitteln, haben wir auf
Wörterbücher und die grammatischen Kategorieren Adjektiv/Substantiv
zurückgegriffen.
Um
die Bedeutung der Sätze
zu ermitteln, haben wir Leerstellen aufgespürt und gefüllt,
außerdem den Zusammenhang der Sätze als Text beachtet. Dabei haben
wir auf die Rhetorik zurückgegriffen.
Sinn
gibt es auf der Ebene des Satzes, vor allem jedoch des Textes. Um den
exakt zu bestimmen, haben wir den Text
in seiner Struktur beschrieben und in einen Kontext
gestellt – hier in den eines anderen Gedichtes des Autors
und in die europäische Tradition der Gattung Sinnsprüche und
Lebenslehren.
Zum
Kontext gehört auch die Situation, in der ein Text geäußert wird;
dazu konnten wir in diesem Fall nichts sagen; die literarische
Gattung der Sinnsprüche musste ausreichen, um das sprachliche
Handeln der Sprechers zu bestimmen.
1 Storms
Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und
erläuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und Wien o.J. (Vorwort
datiert: Dezember 1918), S. 92
2 Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.
3 Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897
4 Apologie 28 b. Die großen Lehrer stellen sich damit gegen die gängige menschliche Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)
5 Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl. das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!
6 Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“
2 Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.
3 Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897
4 Apologie 28 b. Die großen Lehrer stellen sich damit gegen die gängige menschliche Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)
5 Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl. das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!
6 Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“