Es
heißt: Der Mensch ist das Tier, das Geschichten erzählt – und die
sind längst in der Politik angekommen. Allerdings ist bei einem
erfolgreichen Narrativ nicht entscheidend, ob es mit der Realität
übereinstimmt oder Fake News verbreitet.
„Kinder
brauchen Märchen“, so heißt ein berühmtes Buch von Bruno
Bettelheim. „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“,
schreibt die amerikanische Autorin Joan Didion. „Wir erzählen uns
Geschichten, um zu leben. Wir interpretieren, was wir sehen und
suchen uns die praktikabelste der verschiedenen Lösungen aus. Wir
leben voll und ganz darin, dass wir eine narrative Linie über
verstreute Bilder legen.“
„Wenn
man es aus dem biologischen Blickwinkel unserer Sinne her betrachtet,
empfängt unser Geist von der Welt nur bruchstückhafte
Informationen“, sagt Alberto Manguel, „Hätten wir nur diese
Fragmente – ein Geruch, eine Farbe, eine Form, ein Klang –,
ergäbe das Universum für uns keinen Sinn. Erst, wenn ich meine
Vorstellungskraft einsetze, um eine Erzählung zu konstruieren, kann
ich mit der Welt in einen Austausch treten.“
Alberto
Manguel ist der Autor des Klassikers „Eine Geschichte des
Lesens“. Er hat sein ganzes Leben darüber nachgedacht, warum wir
Geschichten brauchen. „Ich glaube, dass es dafür einen
biologischen Grund gibt. Nach Darwin entwickeln wir als Tiere
Werkzeuge, um zu überleben, und die menschliche Gattung hat die
Vorstellungskraft entwickelt, als Überlebenswerkzeug“, erklärt
er. „Die Vorstellungskraft erlaubt es uns, eine Erfahrung zu
machen, ohne diese Erfahrung tatsächlich machen zu müssen. Wir
können uns vorstellen, was geschehen wird, wenn wir nach links oder
nach rechts gehen, oder wenn uns jemand begegnet, und wir nutzen
Geschichten dazu, die Vorstellung einer Erfahrung zu konstruieren.
Wir benutzen den narrativen Impuls.“
Auch
das Vergnügen, das Geschichten uns bereiten, sei kein Selbstzweck:
„Wir nutzen Geschichten. Wir benutzen den narrativen Impuls.
Vergnügen bereitet das Erzählen erst in zweiter Linie, wie bei den
anderen Überlebensimpulse auch, es ruft alle möglichen Emotionen
hervor. Es ist wie beim Sexualakt: Sein Ziel besteht nicht darin, uns
zu befriedigen, sondern die Gattung fortzusetzen. Aber damit wir es
tun, muss es uns Vergnügen bereiten. Und so verhält es sich auch
mit dem Geschichtenerzählen: Sein Sinn besteht darin, dass wir uns
in der Welt zurechtfinden.“ Um uns in der Welt zurechtzufinden,
müssen wir sie uns zu eigen machen: „Unser Gehirn ist nicht nach
den Dimensionen des Universums strukturiert. So denken wir uns die
Dinge etwa in einer Reihenfolge: Etwas kommt vorher, etwas anders
nachher, etwas ist rechts oder links, oben oder unten. Doch das sind
Konventionen, im Universum existiert so etwas nicht. Um eine
Erzählung zu konstruieren, muss man irgendwo beginnen.
Der
Rote König in ‚Alice im Land der Spiegel‘ gibt dem
Gerichtsdiener folgende Regel: ‚Fang mit dem Anfang an, geh weiter
durch die Mitte, und wenn du zum Ende kommst, hör auf.‘ So
funktionieren Geschichten. Aber die Welt funktioniert nicht so,
deshalb fragen wir ständig: Wie hat es angefangen? Ah,
Schöpfungsgeschichten! Und wie wird es aufhören? Da haben wir die
Apokalypsen.“
„Und
dort sehen Sie, wie die Kurve ansteigt“, sagt Michael Solf, „seit
dem Ende der 70er-Jahre bis etwa zum Jahr 2000, dort kurz stagniert,
um dann richtig abzuheben, und inzwischen findet sich das Wort in
einer unteren mittleren Häufigkeit.“ Michael Solf ist Lexikograf.
Für das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache bearbeitet er den
Eintrag zum Stichwort „Narrativ“. Die Überarbeitung wurde nötig,
weil das Wort in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat. „Unter
einer Million Wörtern stecken sechs Narrative, aber wir haben
natürlich viele, viele, viele Millionen Wörter. Das heißt, das
Wort ist bei uns viele Tausend Mal belegt“, erklärt er.
Ursprünglich
hatte der Begriff „Narrativ“ eine neutrale Bedeutung: „Was wir
Ende der 70er-Jahre zunächst finden, das ist so etwas wie ein
vorgefundener, konstruierter, sinnstiftender Zusammenhang zwischen
einer Folge von Ereignissen und Sachverhalten.“ Doch das hat sich
geändert: „Man kann aber feststellen, dass der Begriff Narrativ in
politischen, gesellschaftlichen und ähnlichen Diskursen häufig
benutzt wird, um andere Überzeugungen zu relativieren und sie als
willkürlich zu kennzeichnen, als bloße Fiktion, als artifiziell,
als etwas, das eigentlich nicht wirklich da ist.“ Für seine These,
dass „Narrativ“ ein abwertender Begriff sei, hat Michael Solf
einen ganz einfachen Beweis: „Versuchen Sie mal eine
Ersetzungsprobe. ‚Das Narrativ von der Unterdrückung der Frau‘ –
funktioniert das gut? ... Wenn das nicht funktioniert, dann sind wir
am Kern der Sache angekommen.“ Wer die Unterdrückung der Frau als
bloßes Narrativ bezeichnet, negiert den Sexismus. Vieles von dem,
was wir heute als Narrativ bezeichnen, hätte man früher Ideologie
genannt: „Ich denke, das ist einer der Gründe für den Erfolg
eines solchen Wortes. Als hätte man auf eine wissenschaftlich
verbrämte Variante der Diskriminierung nur gewartet.“
„Es
scheint, als hätten wir uns bisher getäuscht über das, was
Gesellschaften und Nationen zusammenhält. Es sind nicht Verträge,
Verfassungen, Gründungsmythen, gemeinsame Sprache und Kultur,
Religion oder Ideologie. Es ist das Narrativ, Dummchen!“ So heißt
es in einem Artikel, der 2018 in der „Welt“ erschienen ist. Der
Journalist und Autor Matthias Heine schreibt in der Rubrik „Modewort“
über die erstaunliche Karriere des Begriffs „Narrativ“.
Ursprünglich stammt das Wort aus dem Buch „Das postmoderne Wissen“
des französischen Philosophen François Lyotard. Lyotard verwendet
darin den französischen Begriff „grand récit“. Diese
Meta-Erzählungen seien in der Postmoderne in die Krise geraten, sagt
Heine im Interview: „Das war eben geboren aus dieser von Lyotard so
gesehenen Tatsache, dass die großen Erzählungen ... der
Vergangenheit – die Aufklärung, der Staat, der fürsorgliche
Staat, die Nation – oder noch älter, das Christentum, ‚Gott ist
allmächtig‘, dass die ihre Strahlkraft verloren hatten nach den
Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch oder der
Beschädigung des Kommunismus und er plötzlich eine Art
Verbalisierung suchte, in der man klar machen konnte, dass das eben
alles Narrative, Narrationen, Imaginationen oder eben bloß
Erzählungen sind und nichts Unveränderliches, und dass es immer
einen Kampf solcher Erzählungen gibt. "
Früher
galten diese Großerzählungen nicht als Narrativ, sondern als Norm.
In der pluralistischen Gesellschaft werden sie abgelöst von
Mikro-Narrativen: Jede Identität hat ihr eigenes Narrativ. „Ein
Großnarrativ, das lange Zeit nicht infrage gestellt wurde, war ja
Mann und Frau. Dass es einfach Mann und Frau gibt. Wenn Sie jetzt
non-binäre Identitäten schaffen, schaffen Sie damit neue
Mikronarrative, die dieses Großnarrativ infrage stellen. Und das ist
eben alles natürlich Ausdruck einer Krise, die aber auch Aufbruch
ist. "
„Humans
are story-telling animals. „, sagt der
israelische Historiker Yuval Noah Harari in einer
Online-Veranstaltung von Los Angeles Live Talks: „Menschen sind
Tiere, die Geschichten erzählen. Unsere Identität basiert auf den
Geschichten, die wir glauben. Kaum je gelingt es, Menschen zu
politischem Handeln zu inspirieren, indem man ihnen wissenschaftliche
Tatsachen erklärt. Wenn Sie den Leuten sagen: ‚e = mc²‘, eine
grundlegende Gleichung der Physik – wer wird dann für Sie stimmen?
Um Menschen zu inspirieren, brauchen Sie eine Geschichte, eine
Mythologie, mit mehr oder weniger Nähe zur Wahrheit.“
Eine
jüdische Lehrgeschichte aus dem 11. Jahrhundert: „Wahrheit, nackt
und kalt, wurde an jeder Tür des Dorfs abgewiesen. Ihre Nacktheit
machte den Menschen Angst. Als Parabel sie fand, kauerte Wahrheit in
einer Ecke, zitternd und hungrig. Parabel bekam Mitleid, hob Wahrheit
auf und nahm sie mit nach Hause. Hier kleidete sie Wahrheit in eine
Geschichte, sie wärmte sie auf und schickte sie wieder los.
Gekleidet in eine Geschichte, klopfte Wahrheit wieder an die Türen
des Dorfs, und nun hieß man sie willkommen. Die Dorfbewohner luden
sie ein an ihren Tisch und ließen sie an ihrem Feuer sitzen.“
Der
Historiker Harari sagt: „Wenn sie den Menschen die Wahrheit sagen,
die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, dann wird kaum jemand
für Sie stimmen. So würden Sie nie Präsident oder Premierminister.
" „Die wahrscheinlich wichtigste Zutat, die Geschichten mit
sich bringen, sind Emotionen“, sagt die
Neurowissenschaftlerin und Autorin Maren Urner. „Das, was uns
eben vor allem reizt, und warum wir Dinge besser abspeichern können,
sind Emotionen, also deshalb funktionieren auch die reinen Fakten,
wenn wir versuchen, die irgendwie weiterzugeben, niemals so gut, als
wenn wir eine Geschichte drumherum erzählen.
Geschichten
verbinden das faktische Wissen mit unserem erlebten
Erfahrungshorizont. Das hat auch eine körperliche Dimension, so die
Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling 2017 in einem Vortrag
auf der re:publica. „Alles, was wir denken, denken wir mit dem
Gehirn, und das Gehirn ist angebunden an unsere Körper“, erklärt
sie. „Deshalb schöpft das Gehirn, wenn es denken will, aus all den
körperlichen Erfahrungen, die es abspeichern konnte vorher in
unserem Leben. Dazu gehören Gefühle, visuelles Input, Gerüche,
Geräusche, Geschmack, Bewegungen. Und wenn wir zum Beispiel Leute im
Gehirnscan liegen haben, und die lesen den Satz: ‚John beißt in
das Wurstbrot‘, dann feuert in dem Moment, in dem sie das Verb, das
Handlungswort ‚beißen‘ lesen, die Gegend im Gehirn los, die
damit zu tun hat, selber zu beißen.“ Wenn
wir in Geschichten etwas sehen, hören oder riechen, versetzt uns das innerlich in Aktion. Auf Wörter, die etwas erzählen, reagiert unser Gehirn so, als
würden wir das Erzählte tatsächlich erleben, berichtet Wehling:
„Wenn das Gehirn auf so etwas zurückgreifen darf, dann freut sich
das Gehirn ungemein. Wieso? Weil es da so richtig aus seiner
Welterfahrung schöpfen darf, da hat es richtig viel zum Mitfeuern.“
[Ausführungen
über die Firma Storymachine]
„Tod
und Wiedergeburt, und das ist das Grundmotiv der Heldenreise: Einen
Zustand zu verlassen, den Ursprung des Lebens zu finden, und in einem
reicheren, reiferen Zustand wieder hervorgebracht zu werden“, sagt
Joseph Campbell in der Gesprächsreihe „Die Macht der Mythen“.
Berühmt wurde der amerikanische Mythologe mit seinem Buch „Der
Held in den tausend Gestalten“. Campbell beschreibt die mythische
Heldenreise als einen Weg mit klar definierten Stationen: Der Held
oder die Heldin folgt dem Ruf zum Abenteuer, er oder sie verlässt
die vertraute Welt, besteht Abenteuer und kehrt verwandelt zurück zu
der eigenen Gemeinschaft. „Das ist die Tat des Helden: Aufbruch,
Erfüllung, Rückkehr.“
Das
Muster der Heldenreise findet sich nicht nur in Märchen, Mythen und
Filmen. Campbell beschreibt es als archetypisches Prinzip, das in
jedem einzelnen menschlichen Leben realisiert wird. Auch wir
vernehmen beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste den
Ruf zum Abenteuer, den wir entweder annehmen oder ablehnen. Joseph
Campbell beschreibt die individuelle Heldenreise als Reifungsprozess:
„Die Reifung des Individuums: Es ist diese geradezu pädagogische
Anleitung, der man folgt, das geht von der Abhängigkeit ins
Erwachsensein, dann folgt die Reifung, und dann geht es zum Exit.“
Wir
erzählen uns Geschichten, nicht nur, um zu leben, sondern um uns
selbst zu optimieren und uns zu verkaufen. Wir haben aus dem
Storytelling eine Industrie gemacht. Warum ist das Erzählen gerade
heute so wichtig geworden? Der Abschied von den Großerzählungen,
den François Lyotard diagnostizierte, ist nur einer von vielen
Gründen.
Die
Neurowissenschaftlerin Maren Urner nennt einen weiteren: „Da denke
ich einfach, dass diese Unsicherheit, die wir erleben, also wir jetzt
im Sinne von gesamtgesellschaftlich gerade in den sogenannten
besonders entwickelten Industrieländern, wo alles möglich zu sein
scheint. Unsicherheit, weil wir zu viele Handlungsoptionen haben, zu
viel, gemessen an dem, was unser Gehirn leisten kann. Übertragen auf
die Berufswahl, die Partnerwahl, auf die Wahl, wie wir unsere Zeit
verbringen, ist unser Gehirn in einem kontinuierlichen
Überforderungsmodus. Das heißt, umso stärker, würde ich
argumentieren aus Sicht der Neurowissenschaften, Psychologie, sind
wir auf der Suche nach Narrativen, die uns Halt geben.“
Oder
liegt es an der Informationsflut, wie Philipp Jessen von Storymachine
vermutet: „Weil es so laut ist, weil es so viele Informationen
gibt, weil es so viele Streitereien und öffentliche Diskurse gibt in
einer unglaublich erratischen Lautstärke, dass die Leute gar nicht
mehr wissen, wo hören sie hin? Und das ist natürlich der Grund,
dass eine gut erzählte Geschichte natürlich durchdringt bei der
ganzen Lautstärke, die es heutzutage gibt.“
Liegt
es an der Politik, wie Alberto Manguel glaubt? „Vielleicht ist es
tatsächlich so, dass wir uns heute stärker dem Storytelling
zuwenden als zu anderen Zeiten. Auf jeden Fall leben wir in einer
verwirrenden Zeit. Wir befinden uns wieder mitten in politischem
Chaos. Wir dachten, der Faschismus sei ein Ding der Vergangenheit,
doch er ist keineswegs vergangen. Die Faschisten erheben wieder ihren
Kopf, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben. Und wir sind
mitten in einer Pandemie. Nichts ist sicher. Wir brauchen
Geschichten, um einen Sinn zu finden in einem Universum ohne Sinn.“
Geschichten
bieten Halt, das zeigt auch der Blick in einen Märchenklassiker. „Da
fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen
ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt,
seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war
gestorben. Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, dass die Perlen
und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine
Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle
Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein
Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich
eine große Pelzkappe daraus machen.“
SieglindeGeisel: Die Wirklichkeit erfinden. Fluch und Segen des Narrativs.
Eine Sendung in „Zeitfragen“ des Deutschlandfunks Kultur,
31.05.2021